Entstehung der spätmittelalterlichen Wüstungen

Im Spätmittelalter kam es zu einem dramatischen Bevölkerungsrückgang: zwischen 1330 und 1480, also innerhalb von 150 Jahren, sank die Bevölkerungszahl im Gebiet des heutigen Deutschlands von ungefähr 13 bis 14 Mio. auf nur noch etwa 7 bis 10 Mio. Menschen1).

Von den geschätzten 170.000 Siedlungen zurzeit der größten Siedlungsdichte im Hochmittelalter verschwanden bis zum Ende der spätmittelalterlichen Wüstungsperiode rund 40.000 (- 23,5 %) wieder2).

 

In der ehemaligen Grafschaft Wernigerode fielen von 38 Siedlungen sogar 23 (- 60,5 %) wüst, die meisten lagen unmittelbar am Harzrand, aber immerhin fünf auf der heutigen Gemarkung Wasserlebens3).

 

 

Bevölkerungsrückgang

 

Für den Bevölkerungsrückgang sind mehrere Ursachen verantwortlich deren Zusammenwirken letztendlich noch nicht gänzlich geklärt ist.

 

Das 14. Jahrhundert begann schon schlecht.

 

Vermutlich durch einige trockene Sommer und kalte Winter kam es vor allem in den Jahren zwischen 1309 und 1317 zu europaweiten Missernten, die Hungersnöte und eine Typhusepidemie auslösten4).

 

Ab 1348 grassierte dann bis 1353 in ganz Europa der Schwarze Tod, die erste große Pestepidemie5). Zwar verläuft die Beulenpest, um die es sich hier handelte, meist tödlich, sie ist aber keine hochinfektiöse Krankheit. Daher dürfte das Massensterben durch weitere Infektionskrankheiten mitverursacht worden sein, die parallel oder der Pest folgend auftraten6).

 

Gegen Ende des Jahrhunderts setzte ein stetiger Rückgang der Frühjahrstemperaturen ein, wodurch sich die Ernteerträge verschlechterten7). Ab 1450 sanken zudem die durchschnittlichen Herbsttemperaturen8), beides Vorboten der kleinen Eiszeit im 17. und 18. Jahrhundert.

 

Umweltkrisen und Seuchen ließen so die Sterblichkeit deutlich ansteigen.

 

 

Wanderungsbewegungen

 

Dieser Bevölkerungsschwund löste schließlich Wanderungsbewegungen aus.

 

Denn überall entstanden Leerstände, hier fehlte der Hoferbe oder die Ehepartnerin, dort der Handwerker oder der Bauer.

 

Für Mutige eröffneten sich jetzt ganz neue Perspektiven.

Sie zogen in die Städte oder in attraktivere Dörfer, um hier freie Stellen als Handwerker oder Bauern zu übernehmen oder in diese einzuheiraten9).

Auch Unfreie oder Halbfreie nutzten die Gunst der Stunde und entflohen ihren drückenden Lebensumständen, wenn sie andernorts verlassene Bauernstellen besetzen konnten10).

 

Die Wanderungsbewegungen werden fast unmerklich begonnen haben:

  • ein Bauer gab seinen mit Diensten und Abgaben belasteten Hof auf, und übernahm woanders einen zu günstigeren Bedingungen;

  • eine Witwe fand einen neuen Lebenspartner im Nachbarort, wo die Höfe größer und die Äcker besser waren;

  • ein Knecht mit Geschick besetzte in der Stadt eine freigewordene Handwerkerstelle;

  • eine Magd verließ ihren Heimatort um einen verwitweten Bauern zu heiraten;

  • ein Erbe verzichtete auf den Nachlass und wechselte auf einen verlassenen Hof in einem lebendigeren oder besser geschützten Dorf.

 

So wurden schlechte Höfe nach und nach aufgegeben und verfielen. Kam das in einem Dorf oft und immer wieder vor, erhöhte sich der Druck auf die letzten verbliebenen Einwohner stetig, ebenfalls wegzuziehen, insbesondere, wenn sie nicht den damals noch üblichen Kleinkriegen des Adels schutzlos ausgeliefert sein wollten.

 

Der Ort war irgendwann wüst.

 

Die dazu gehörenden Äcker und Wiesen zumal in ertragreicher Lage wurden häufig weiterhin bewirtschaftet, allerdings oft extensiver, Äcker als Wiesen oder Wiesen als Weiden.

Wenn es die Entfernung zum übernommenen Hof im Nachbarort erlaubte, gab ein abgewanderter Bauer die Nutzung seiner zurückgelassenen Flurstücke natürlich nicht einfach auf.

Ein Veto des Grundeigentümers war dabei nicht zu befürchten, Bauern fehlten ja überall.

Deshalb hatten auch die Altbauern in den Bestandsorten gute Chancen, mit besitzlosem Land der benachbarten Wüstungen belehnt zu werden.

 

 

Aber nicht überall wirkten sich Bevölkerungsrückgang und Wanderungsbewegungen gleich aus.

 

Betroffen davon waren vor allem die Siedlungen des früh- besonders aber des hochmittelalterlichen Landesausbaus. Sie lagen häufig verkehrsungünstig, ihre Wasserversorgung war oft unzureichend und ihre Nutzflächen wiesen meistens eine geringere Bonität auf. Nicht selten mussten die Bauern hier mit schlechteren Besitzverhältnissen und höheren Abgaben an die Grundherren zurechtkommen.

Rimmerode gehört in diese Gruppe, aber auch Südschauen als Ausbauort von Schauen.

 

Doch auch ältere Siedlungen konnten wüstungsgefährdet sein, beispielsweise wenn sich Umweltbedingungen änderten, etwa Brunnen versiegten, oder kirchliche bzw. obrigkeitliche Funktionen verloren gingen, wie bei Husler und Odorf.

 

Allerdings glich die Zuwanderung in den meisten Städten oder Dörfern die höhere Sterblichkeit ganz oder teilweise aus und sicherte deren Fortbestand.

 

Ein Indiz für eine Wanderung von einer wüsten zu einer Bestandssiedlung ist das Auftauchen von Wüstungsnamen als Flurnamen oder als Bestandteil von Flurnamen heutiger Orte, z.B. „In Ribbenrode“ oder „Das Odorfer Feld“.

Denn zumindest diese Flurstücke gehörten ehedem zu den Wüstungen.

 

Ob aber die Fluren der wüsten Orte geschlossen oder nur teilweise an die Nachbarorte übergingen ist ungeklärt und wahrscheinlich von Fall zu Fall verschieden.

 

Ein Blick auf die heutige Flurnamenkarte von Wasserleben kann bei drei Wüstungen für ein wenig Klarheit sorgen.

 

Die Ortslage von Husler ist in etwa bekannt, sie befand sich auf dem „Husler Feld“. Neben diesem Flurstück gehörte wohl auch „Auf dem Walle“, wo die frühmittelalterliche Burg Ler zu vermuten ist, zur Flur Huslers. Sie wird sich nach Norden bis zum kleinen Nordler und nach Osten und Süden bis zur Grenze nach Langeln ausgedehnt haben, denn dass die Wasserleber Flur den Ort Husler umschloss, ist wenig wahrscheinlich.

Ähnliches gilt für Südschauen. Der Ort wird auf dem Flurstück „Schauenswiese“ gelegen haben, oberhalb des heutigen Gehöfts Schauenteichen. Zumindest die nordwestlich und nördlich befindlichen Flurstücke dürften zur Wüstung gehört haben, wobei „Hundert Morgen“ geradezu an frühmittelalterlichen Landesausbau denken lässt.

In beiden Fällen könnte die gesamte Flur nach Wasserleben gekommen sein.

 

Anders ist es vermutlich bei der Wüstung Odorf. Sie lag wohl auf heutiger Berßelscher Flur11). Nur „Das Odorfer Feld“ und „Der Odorfer Anger“ als südlicher Teil ihrer Flur gelangten nach Wasserleben, haben aber keine direkte Anbindung an die ehemalige Ortslage.

Neben dieser Ortslage gehören heute zweifellos auch Teile der Odorfer Flur zu Berßel.

 

Ein weiteres Indiz für eine Wanderungsbewegung ist in dem ehemaligen Straßennamen „Schauensche Straße“ zu vermuten. Sie führt ja nicht von Wasserleben nach Schauen, sondern der Name bezeichnet einen Teil der Hauptstraße zwischen Rohrstieg und der Brücke über den Mühlbach.

An ihr haben sich wahrscheinlich Zuwanderer aus Südschauen angesiedelt.

 

 

Für die spätmittelalterlichen Wanderungsbewegungen im Norden der Grafschaft Wernigerode war nun der Aufstieg Wasserlebens zu einem regional bedeutenden Wallfahrtsort entscheidend.

 

Nachdem sich hier 1231 das Blutwunder ereignet haben soll, entstanden in der Folgezeit die Heiligblutkapelle zur Reliquienverehrung und, um 1300, das Nonnenkloster12). Zuwanderer konnten jetzt im Ort auf mehr Geselligkeit, auf bessere Verdienstmöglichkeiten und auf mehr Schutz hoffen. Zudem stellte die Ilse als ständiges Fließgewässer auch bei anhaltend trockener Witterung die Versorgung mit Frischwasser sicher.

 

Die besondere Attraktivität Wasserlebens als Wallfahrtsort zeigt nicht zuletzt der Vergleich mit Veckenstedt und Berßel, alle drei Dörfer verfügen mit der Ilse über den gleichen Stadtortvorteil, aber nur auf der Wasserleber Gemarkung befinden sich mehrere Wüstungen.

 

H.-G. Krasberg 2020

ergänzt 2023


Quellen und Literatur

1) Meuthen, Erich: Das 15. Jahrhundert, München/Wien, 1980 S. 3-5 zitiert nach Vasold, Manfred: Die Ausbreitung des Schwarzen Todes in Deutschland nach 1348, in: Historische Zeitschrift, Bd. 277, 2003, S. 306

2) Abel, Wilhelm: Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart, 1967, S. 110

3) Reischel, Gustav: Geschichtliche Karte des Kreises Grafschaft Wernigerode 1912, in: Jacobs, Eduard: Wüstungskunde des Kreises Grafschaft Wernigerode, Halle, 1913

4) Glaser, Rüdiger: Klimageschichte Mitteleuropas, Darmstadt, 2001, S. 115 f

5) Abel, Wilhelm: Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart, 1967, S. 116

6) Vasold, Manfred: Die Ausbreitung des Schwarzen Todes in Deutschland nach 1348, in: Historische Zeitschrift, Bd. 277, 2003, S. 308

7) Glaser, Rüdiger: Klimageschichte Mitteleuropas, Darmstadt, 2001, S. 64 f u. 76 u. Abel, Wilhelm: Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart, 1967, S. 86

8) Abel, Wilhelm: Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart, 1967, S. 91

9) ebd. S. 113 ff

10) Jacobs, Eduard: Wüstungskunde des Kreises Grafschaft Wernigerode, Historische Kommission für die Provinz Sachsen und für Anhalt (Hrsg), Berlin, 1921, S. 15 u. 73

11) Reischel, Gustav: Geschichtliche Karte des Kreises Grafschaft Wernigerode 1912, in: Jacobs, Eduard: Wüstungskunde des Kreises Grafschaft Wernigerode, Halle, 1913

12) siehe hierzu umfassend: Heise, Wilhelm: Chronik des Dorfes Wasserleben, handschriftlich, unveröffentlicht, 4 Bde., Wasserleben, 1964, Bd. 1, S. 90-296